Was dor Leipzscher noch wussde - Spielberichte, Stadionbesuche, Personen, Erlebnisse und Kurioses aus aller Fußballwelt

  • Guten Morgen, Freunde.


    Durch Katers schönen Beitrag aus Berlin fühlte ich mich nun doch einmal dazu animiert, auch meine schönsten, dramatischsten, lustigsten und was auch immer Erlebnisse rund ums Leder auf Papier ins Internet zu bringen.
    Das meiste betrifft natürlich Auswärtsfahrten, denn einerseits passiert da mehr und andererseits wäre zum tausendsten Mal "Willkommen daheim" für den Rezipienten höchst langweilig.
    Aus verschiedenen Gründen fahre ich derzeit kaum noch auswärts, was sich vielleicht mal wieder ändern wird.
    Also muss ich fürs Erste auf alte Fahrten zurückgreifen und berichten, aber auch da lagern bereits einige saftig abgehangene Anekdoten und wollen nur von euren Augen verspeist werden.
    Wo es geht und mit der Forensoftware zu vereinbaren ist, werde ich zur Auflockerung auch Bilder einbauen.


    Ich werde keine strengen Unterscheidungen vornehmen zwischen Hoppingberichten, Stadiontests, Spielberichten und was es sonst noch gibt, da das für mich alles irgendwo zusammengehört.
    Also schreibe ich es auch so, wie es mir einfällt.
    Mal wird für einen Verein und ein Stadion ein Beitrag reichen, vielleicht werde ich hier und da auch mal mehrere machen.
    Je nachdem.
    Ich gebe mir da keine Strenge.


    Fangen wir ohne weiteres langweiliges Gelaber an mit:


    Kapitel 1: Markranstädt


    in dem ich lerne, dass es doch noch Gerechtigkeit auf der Welt gibt, diese Welt manchmal auf dem Kopf steht und man der Liebe wegen alles macht.

    Markranstädt?
    Warum beginne ich ausgerechnet mit Markranstädt?
    Will ich meine Leser quälen und gleich vergraulen?
    Mitnichten!
    Aber ich möchte mit dem beschissensten Ort direkt anfangen, um mich danach besseren widmen zu können.
    Darum gilt:
    Nicht lange aufschieben, sondern hau wech, den Scheiß!
    Und los!


    Was gibt es über Markranstädt zu wissen?
    Vielleicht das:
    Die Betonung geht so: Márkranstädt - NICHT Markránstädt, wie oft von unwissenden Wessis gedacht.
    Das hat nichts mit Kränen zu tun.


    Wenn man von der Welthauptstadt Leipzig aus sieht, findet man das Nest so:
    Man geht ins Plattenbauparadies Grünau (oder versucht, so schnell wie möglich daran vorbeizukommen) und macht es sich am beliebten Ausflugssee "Kulki", eigentlich Kulkwitzer See, bequem.
    Dann schaut man ans andere Ufer.
    Et voilà: Markranstädt.


    Näher sollte man nicht kommen, außer es muss unbedingt sein.
    Dann kann man eine S-Bahn nehmen oder die B 87.
    Auswärtige nähern sich am besten über die A 9 oder A 38, je nachdem, woher man kommt.


    Markranstädt erlangte Weltruhm durch die Geburt und Beherbergung unserer roten Lieblingsbullen.
    Nachdem Chemie und Lok zur großzügigen Offerte, ihnen das Blut auszusaugen, "No" gesagt hatten, wanderten die RB-Werber ein wenig im Lande herum, bis man in Markranstädt voller Freude "Aber bitte mit Sahne" antwortete.
    Dafür wurde aus dem bis dahin unbekannten SSV Markranstädt über Nacht Red Bull Markranstädt.
    Etwas später wurde der SSV Markranstädt als Verdauungsprodukt wieder ausgeschieden und mit ein paar Geldscheinen vom klebenden Zuckersaft saubergetupft.


    Und was macht man, wenn am Wochenende die dreißigste Wiederholung von Richterin Alexander Lenßen läuft?
    Genau, man schaut sich das Elend mal an.
    Immerhin ist der Weg nicht so weit wie nach Delitzsch, Grimma oder Wurzen.


    Mit den eigenen gesunden vier Reifen in "Markrans" angekommen, wie sowohl Verein wie auch Nest liebevoll verarscht werden, gestaltet es sich aufgrund einiger Polizeisperren nicht ganz einfach, das Welthistorie produziert habende "Stadion am Bad" zu finden.
    Ich bin mir übrigens sicher, dass das "Bad" im Namen für "Böse" steht.
    In einer komischen Nebenstraße zwischen Stadion, Park und Acker taucht die Spielstätte dann doch nach ein paar unfreiwilligen Runden durch die "Stadt" auf.


    Ich bin recht früh da und will mich sogleich der Kasse nähern, um Näheres in Erfahrung zu bringen.
    Da sehe ich direkt daneben dieses Pentagramm, dieses allsehende Auge der Fußballilluminaten prangen und weiche instinktiv einen Schritt zurück.
    Ich beginne zu beten.


    Liebe Fußballgötter, die ihr allmächtig seid, jedes Fallen des Spielers unserer Mannschaft mit Elfmeter zu würdigen und jedes Fallen des Spielers unserer Gegner mit Schwalbe zu ahnden, lasset an mir vorübergehen den Fluch des teuflischen Dreiecks mit spitzem M in der Mitte und führe mich nicht in Versuchung, seinen hypnotisierenden Kräften zu erliegen.



    Jetzt spüre ich die Gegenwart des Bösen ganz nah.
    Kennt ihr das, wenn ihr euch an einem Ort befindet, von dem ihr wisst, dass dort Böses geschah und ihr diese Aura noch spüren könnt?
    Zum Beispiel auf einem Indianerfriedhof, in einem alten Stasi-Gefängnis oder in einer Halle, in der mal "Musikantenstadl" produziert wurde?
    So ist es auch beim Stadion am Bad.
    Man weiß einfach, dass hier finstere Taurinmächte am Wirken waren und dieser Ort für immer verflucht ist.


    Schon spüre ich den eisigen Griff des Todes auf meiner Schulter.
    HAAAAAALT!
    Es war doch nur ein Platzwart, der wissen möchte, was ich hier will.
    Wahrscheinlich ist er von der gewaltigen Polizeipräsenz in seinem Ort eingeschüchtert und will nichts dem Zufall überlassen.
    Ich könnte ja auch ein üble Dinge im Sinn führender Lok-Hool sein, der vor dem Spiel das ganze Stadion in die Luft sprengen will.
    Was mehr oder weniger auch stimmt.
    Ich verwerfe das Vorhaben aber wieder, allein schon aus Mangel an Sprengstoff.
    Ich wusste, dass ich etwas vergessen hatte.


    Also sage ich dem Platzwart-Mund Sauron Mateschitz', dass ich Einlass verlange in das Schicksalsstadion, um die Dose der Macht ins Bengalfeuer zu werfen und dem finsteren Treiben ein Ende zu bereiten!
    Sofort verwandelt sich der Platzwart in einen Kassierer und überreicht mir das Billet.
    Die erste Hürde ist genommen.


    Nachdem ich den Eingang passiert habe, der mehr an einen Freizeitpark erinnert, sehe ich die bunte Zusammenwürfelung dieses Stadions.
    Gleich hinter dem Eingang stehen ein paar Bänke und Buden, die mich an ein Volksfest erinnern.



    Dahinter kommt die hingeklotzte Tribüne, die so gar nicht ins Gesamtbild passen will.
    Sonst macht das Gelände, besonders mit dem Bad dahinter, den Eindruck eines Vorstadtsportplatzes.
    Es gibt sogar den Tennisplatz, auf dem sich Manager und bereits versnobte Privatgymnasiasten vernetzwerken.
    Aber die Tribüne passt nun gar nicht hinein.
    Sie stammt aus Zeiten, als der Mateschitz Markranstädts, ein unangenehmer Maschinenbauer namens Nussbaum, den Großangriff auf den Profifußball startete.
    Den soll er ziemlich wahrscheinlichen Gerüchten zufolge nur gemacht haben, weil man beim 1. FC Lok seine Genialität nicht würdigen wollte.
    Danach wollte er das bessere Lok aufbauen.
    Um es dann an Österreich zu verkaufen...


    Gegenüber der Tribüne bis in die eine Ecke hinein befindet sich die schmale und steile Auswärtstribüne.
    Von einem Block kann man bei einer Länge von einem Tor zum anderen nicht mehr sprechen.
    Hinter dem anderen Tor machen sich Werbebanden von Nussbaum und Red Bull breit, je nachdem, wer da spielt.
    Oder aber, man höre und staune, RB-Hooltras.
    Doch dazu später mehr.


    Langsam füllt sich das Stadion und weil noch viel Zeit ist, genehmige ich mir ein frisches Stadionwürstchen aus Markranstädter Zubereitung.
    Nicht schlecht, geht aber besser.
    Dabei lerne ich "Ginger, die Tonne" kennen.
    Ginger, die Tonne, ist ein naturrothaariger Mann im Alter zwischen 15 und 35 (genauer kann man es wirklich nicht sagen).
    Er bringt bei geschätzten 1,15 m Körpergröße circa 500 Kilo auf die Waage.
    Dennoch hat es die Trikotagenschneiderei Markranstädt geschafft, ihm ein Trikot in Zirkuszeltgröße bereitzustellen.
    Wie viele Polyester wohl dafür sterben mussten?


    Ginger fängt unvermittelt ein Gespräch mit mir an.
    Wahrscheinlich hat er es auf meine noch nicht ganz vertilgte Bratwurst abgesehen und will einen Moment ausnutzen, in dem ich nicht hinschaue.
    Dabei erzählt er mir, ohne dass ich je danach gefragt hätte, dass er eigentlich aus Würzburg kommt, aber während der Ausbildung ein Mädchen aus Markranstädt kennengelernt hat, wegen ihr hierher gezogen und jetzt glühender Anhänger des SSV M ist.
    Es gibt wirklich schlimme Schicksale auf der Welt.


    Später erzählt er mir noch, dass er mal eins auf den Deckel bekommen hat, als er nach einem Spiel des SSV beim 1. FC Lok noch eine halbe Stunde nach Abpfiff vorm Haupteingang des Plache-Stadions in seinem schicken Trikot umherstolzierte, um allen zu zeigen, wer erfolgreich einen Punkt mitnehmen konnte.
    Mittlerweile redet Ginger so lange und so viel auf mich ein, dass ich ihm auch eins auf den Deckel geben will.


    Stattdessen entscheide ich mich, das Gelände etwas mehr zu inspizieren.
    Dabei entdecke ich VIP-Plätze, die man ohne die explizite Beschilderung niemals als solche erkannt hätte.
    Sie sehen einfach aus wie ganz gewöhnliche Plastikschalensitze.



    Links und rechts der Tribüne stehen dann noch alte "VIP-Plätze" herum, die aus der Zeit vor der Tribüne stammen.
    Schön sind sie nicht, aber dafür einzigartig in ihrer einreihigen Anordnung.



    Auch das Bad, das dem Stadion seinen Namen gibt, kann ich hinter der Tribüne entdecken.
    Es ist nicht befüllt, dafür aber fast genauso lang wie die Tribüne.



    Dann sehe ich den Lok-Bus eintreffen.
    Spieler und Trainer steigen aus.
    Man kennt und grüßt sich.
    Nach und nach treffen dann auch die blau-gelben Schlachtenbummler ein und die Markranstädter Bauern müssen bald einsehen, dass sie an diesem Tag auch auf ihrer eigenen Tribüne in Unterzahl sein werden und besser die vorlaute Klappe halten, wenn der blau-gelbe Stadtadel gastiert.
    Ich würde Ginger gerne darauf hinweisen, aber kann ihn trotz seines unübersehbaren Erscheinungsbildes nicht finden.
    Vielleicht bekam er Angst und ist nach Hause gegangen.


    Dann beginnt auch schon das Spiel.
    Die Tabellensituation gestaltet sich so, dass hinter RB II direkt RB III (also Markranstädt) an der Tabellenpitze steht, Lok bereits am 16. Spieltag mit 7 (!) Punkten dahinter.
    Es sollte also bitteschön ein Sieg her.
    Einmal wegen der Punkte, andererseits um den Bauern und besonders Nussbaum das Maul zu stopfen.
    In der ersten Halbzeit passiert nicht viel, in der zweiten kann Lok endlich durch Winterneuzugang Ondrej Brusch in Führung gehen.
    Doch die Freude währt nur kurz, denn nur 4 Minuten später kann Robert Zickert ausgleichen.
    Das ist auch der Endstand.
    So ein Scheiß!
    Na ja, wenn wir schon nicht gewinnen können, kaufen wir ihnen den Kader kaputt.
    Zickert spielt bis heute bei Lok (im letzten Spiel zwei Lattentreffer gegen den BFC), auch Ibold wurde weggeholt.


    Die Rückfahrt gestaltete sich nervig, weil die Polizei alle Leipziger in eine bestimmte Richtung lenkte und deswegen für teils drastische Staus und Wegänderungen sorgte.


    Am Ende der Saison stand der SSV M kurz vor Lok und durfte in die Aufstiegsrelegation, die sie allerdings nach Auswärtssieg zu Hause gründlichst verloren.
    Im Folgejahr trafen Lok und der Vorort noch mal aufeinander, aber die großen Tage von "Markrans" waren vorbei.
    Zu Hause konnten sie noch ein Unentschieden ermauern, im Plache setzte es eine deutliche 4:0-Pleite.


    Beim zweiten Besuch des SSV M war der Hochmut der Bauern schon verflogen und kleinlaut wurde mir erzählt, dass Nussbaum hinschmeißen will, RB kein Geld mehr zahlt und die Stadt alte Schulden eintreiben will.
    Kurz: Der SSV M stand kurz vorm Aus.
    Und so kam es dann auch.
    Ein Jahr, nachdem Nussbaums "besseres Lok" in der Relegation scheiterte, stieg der originale FC Lok ungeschlagen auf.
    In der Saison danach stieg Markranstädt in die sechste Liga ab, wo sie heute im Mittelfeld herumgurken.
    Der eine oder andere Abstieg wäre von mir aus aber noch zu verschmerzen.



    Aber nicht nur der SSV Nussbaum bespielte dieses Stadion, sondern ebenso Red Bull wie auch Red Bull II.
    Deutschlandweit bekannt wurde das Stadion am Bad, nachdem der Retortenschiss RB dort das Training aufnahm, nachdem mittels Spruchbändern und Unkrautvernichtern klargemacht wurde, dass sie hier unerwünscht sind.
    Nach dem ersten Aufstieg zog die Dosentruppe ins Zentralstadion um.
    in Markranstädt spielte weiterhin RB II, gegen die Lok manches Mal antreten musste.


    Auffällig war der komplett andere Umgang im gleichen Stadion.
    Während bei Spielen von Markranstädt griesgrämige Bauern die Kontaktpersonen waren, fuhr RB geleckte Marketingfuzzis und "Wie kann ich Ihnen helfen"-Verkäufer auf.
    Alles wirkte professioneller, aber auch irgendwie wie eine BWL-Justus-Veranstaltung.


    Bei einem Spiel gegen RB II präsentierten die Lok-Fans eine schöne Choreo mit Engelsmotiv.
    Außerdem fiel mir auf, dass so ziemlich die gleichen Bauern, die sonst zu Markranstädt gingen, auch gerne bei RB II herumhangen.
    Aber was soll man in so einem Kaff auch sonst mit seiner Freizeit anfangen...
    Als bildungsfernes Landei im Flanellhemd kann man mit den kulturellen Verlockungen der großen Nachbarstadt natürlich nichts anfangen.
    Da muss es eben "Äs Äs Fau" und "ERR BÄH" sein.



    Doch nun zu den versprochenen Hooltras:
    Leider von keiner Kamera festgehalten begab sich Folgendes:
    Ein paar in Rot und Schwarz gekleidete Figuren versammelten sich hinter der breiten RB-Werbebande hinterm Tor und präsentierten dort ein Spruchband.
    Außerdem sangen sie RB-Gesänge.
    Ob es sich nun um verkleidete Ex-Chemiker oder um ganz andere Erlebnisorientierte handelte, ist bis heute nicht klar.
    Klar ist, mit RB haben sie sonst nicht viel am Hut.


    Nach dem Abpfiff versuchten sie dann auch einen Blocksturm auf die Auswärtstribüne.
    Natürlich warteten die feigen Typen damit lange genug, bis die meisten Lok-Hools und -Ultras das Feld geräumt hatten.
    Um ehrlich zu sein:
    Wer rechnet auch mit so etwas?
    In die Mangel der prügelnden Jungbullen gerieten dann ein Lok-Spieler und ein paar Lok-Fans, die noch am Zaun mit den Spielern diskutierten.
    Es ist klar, dass das nie Konsequenzen hatte und auch nie ein Medienbericht darüber erschien.


    Angeblich sollen RB-Anwälte Medien mit Prozessen gedroht haben, sollte so etwas an die Öffentlichkeit kommen.
    Hoppla, jetzt ist es ja doch passiert. :ohje:




    So, ich hoffe, meine erste Reise ins Land der Erinnerung hat gefallen.
    Wenn dem so ist, abonniert meinen Kanal, gebt mir einen Daumen nach oben und schreibt es in die Kommentare.


    Außerdem:
    Interaktive Mitmachtaktion:


    Aus welchem Bundesland soll mein nächster Bericht stammen?
    Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Berlin?



  • Sehr schön! Eine feine Sache wäre noch eine kurze Erwähnung, in welchem Jahr vor Christi Geburt sich das zugetragen hat, damit man's ungefähr einordnen kann.

    Aus welchem Bundesland soll mein nächster Bericht stammen?
    Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Berlin?

    Ist mir scheißegal! :D

    Nanakorobiyaoki

  • :klatsch: Auch ne ganz feine Klinge! Lass es einfach frei von der Leber weg laufen, das Schlimmste haste ja schon hinter dir. :D

    Drei Buchstaben, zwei Farben, eine Gemeinschaft

    Pivotechnik ist kein Verbrechen
    :drink:


    Lerne Schweigen ohne zu Platzen

  • Da sehe ich direkt daneben dieses Pentagramm, dieses allsehende Auge der Fußballilluminaten prangen und weiche instinktiv einen Schritt zurück.
    Ich beginne zu beten.


    Liebe Fußballgötter, die ihr allmächtig seid, jedes Fallen des Spielers unserer Mannschaft mit Elfmeter zu würdigen und jedes Fallen des Spielers unserer Gegner mit Schwalbe zu ahnden, lasset an mir vorübergehen den Fluch des teuflischen Dreiecks mit spitzem M in der Mitte und führe mich nicht in Versuchung, seinen hypnotisierenden Kräften zu erliegen.

    Was zur Hölle hat sich der Verbrecher, der das war, dabei gedacht? Es gibt viele schreckliche Wappen, unseres zum Beispiel, aber das ist enorm :D

  • Sehr schön! Eine feine Sache wäre noch eine kurze Erwähnung, in welchem Jahr vor Christi Geburt sich das zugetragen hat, damit man's ungefähr einordnen kann.

    Die Hauptgeschichte spielte sich am 7.3.2015 ab.
    Der zweite Besuch war am 8.4.2016.


    Das Spiel gegen RB II war am 25.04.2015.

  • Sehr gut geschrieben!!!! Mehr davon!!

    Aus welchem Bundesland soll mein nächster Bericht stammen?
    Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Berlin?

    Egal, Hauptsache es kommen alle Berichte vor!

  • Wenn ihr Bauern euch nicht auf eine Fortsetzung einigen könnt, kommt eben was ganz anderes. :D


    Kapitel 2: València


    In dem ich fast alle bedeutenden Vereine Spaniens zu Gesicht bekomme, Pistazien der neue In-Snack sind und eine Blaskapelle zum Oktoberfest ruft


    Als ich mit viel zu wenig Schlaf gegen 1 Uhr in einer Nacht im Spätseptember 2010 aufwache, kam der Gedanke, 24 Stunden später immer noch wach, aber putzmunter ein Erholungsgetränk in einem mediterranen Café zu mir zu nehmen, nicht einmal in meinen Träumen vor.
    Ich durfte auch nicht weiterschlafen, denn es stand eine Sprachreise nach València an.
    Drittgrößte Stadt Spaniens, kulturell bedeutend und ... verdammt weit weg.
    Gegen drei Uhr finde ich mich am Busbahnhof ein.
    Von hier soll ein Bus die Verbindung zum Zwergflughafen Altenburg herstellen, der sehr günstige Direktflüge nach Spanien anbietet.


    Meine Mitreisenden sind teils auch schon da.
    Nur mein fußballverrückter Freund H fehlt.
    Eine halbe Stunde vor geplanter Abfahrt ruft er mich an, ob ich ihn zu Hause abholen kann.
    Er wohnt eine Landstraße entfernt und nein, ich kann ihn nicht abholen.
    Aber kein Problem, denn W, der ebenfalls mitkommt, sammelt ihn auf dem Weg ein.
    Kurz nach deren Ankunft und der sofortigen Herstellung bester Reisestimmung, was uns zu dieser Uhrzeit giftige Blicke unserer Mitreisenden einbringt, fährt auch schon der Bus ein.
    Allerdings auf der falschen Seite, quasi verkehrt in eine Sackgasse.
    Die Linienbusfahrer sind verärgert, aber ändern lässt sich das jetzt nicht mehr.
    Als der Bus dann vor uns steht, geht das Johlen los.
    Es ist nicht irgendein Bus, sondern der Mannschaftsbus einer Magdeburger Frauenfußballmannschaft.
    Gepäck einladen und los geht es.



    Noch herrscht ruhige, aufgeregte Stimmung vor.
    Was wird uns erwarten und können wir auch wirklich genug Spanisch, um im Nachtleben zu bestehen?
    Der fette Torsten bestimmt nicht.
    Der verbringt den Unterricht immer damit, über andere zu lästern oder lauthals zu lachen wie der schlimmste Mongo.
    Zum Glück ist Torsten breit genug, einen Doppelsitz für sich alleine beanspruchen zu müssen, und so kann ich ohne ihn mit ein paar Gleichgesinnten die hinterste Reihe besetzen.
    Da ist bekannterweise immer was los.


    Am Flughafen angekommen gleich die nächste Überraschung.
    Der Flughafen hat noch nicht geöffnet.
    Ich kann meinen Augen nicht trauen.
    Hat jemals schon einmal jemand von einem Flughafen gehört, der gegen 8 Uhr nicht offen hat?
    Ich nicht.
    Aber das ist die Wahrheit.


    Also wird spontan beschlossen, zu einer Tanke zu fahren und die Vorräte aufzustocken.
    Die Altenburger gucken nicht schlecht, als da nicht nur Frauen aus dem Frauenfußballbus kommen.
    Der fette Torsten ist bestimmt der Torwart?
    Kommt sowieso kein Ball dran vorbei.
    Beim Gedanken daran, für die nächsten Stunden nichts zu essen zu haben, sondern womöglich nur den Kram, den einem Ryanair möglicherweise (!) anbietet, vertilge ich vor Schock an diesen Gedanken noch an Ort und Stelle eine ganze Packung NicNacs.
    Das muss reichen bis ... ja, bis wann eigentlich?
    Weiß niemand.


    Nach unserem Abstecher zur Tanke geht es zurück zum Flughafen.
    Der hat zum Glück mittlerweile geöffnet.
    Das Terminal ist so winzig, es könnte in eine Lagerhalle passen.
    Einmal zu weit gesprungen steht man schon auf der Landebahn.
    Deswegen kommen wir uns bei den Sicherheitskontrollen und dem Durchlassen in den Wartebereich, die sich alle nicht weiter als 15 Meter vom Eingang entfernt befinden, ziemlich verarscht vor.
    Nach einer weiteren Stunde kommt schon der Billigbomber und befördert und nach ... Alicante!


    Moment, warum nicht València?
    Aus Gründen hielt es irgendjemand für eine gute Idee, uns erst an València vorbei fliegen zu lassen nach Alicante, um dann doch wieder den Weg an Land zurückzulegen.
    Die meisten setzen sich auf die linke Seite, der fette Torsten wird als Gegengewicht auf die rechte Seite befördert.
    Unglaublich, wie er fast alle drei Sitze seiner Reihe perfekt auszufüllen weiß.
    Nach wenigen Sekunden fühle ich mich von diesem grellen Gelb und dem offensichtlichen Plastikanteil von 110% im Flugzeug massiv belästigt.
    Und dann sitze ich nicht mal am Fenster.
    Also zurücklehnen und schlafen?
    Geht nicht, denn H und die daneben sitzende M machen genug Spaß, um die drei Flugstunden ... öh ... ja ... wie im Fluge vergehen zu lassen. :D


    Beim ersten Schritt nach draußen werde ich erst einmal von der Hitze erschlagen.
    Wie eine Mauer drückt sie gegen mich.
    Was andere zum Stöhnen bringt, zaubert mir ein breites Grinsen aufs Gesicht.
    In Deutschland gab es zu dem Zeitpunkt Nebel, sterbendes Laub und beißende Kälte.
    Und plötzlich war der Hochsommer wieder da.
    Geil!


    Erst einmal die unnötige Jacke ausgezogen und dann die Treppe runterspaziert like a president.
    Beim Blick zurück aufs Flugzeug wird mir mulmig zumute.
    Ein Triebwerk qualmt ganz schön heftig.
    Was soll das denn, liebe Air Force Fun?
    Nun ja, das soll das Problem der nächsten Fluggäste sein.
    Ein Beförderungsbus bringt uns zum Flughafen Alicante, der schon einige Nummern größer ist als die Weltverbindung Altenburg.
    Gepäck eingesammelt und rein nach España!
    Draußen wartet schon der Reisebus, der uns von Alicante nach València bringen wird.
    Er ist gut klimatisiert.
    Hoffentlich erkälte ich mich nicht!


    Mir fällt sofort auf, wie rau und karg die Landschaft hier ist.
    Das gibt es nördlich der Alpen nicht.
    Wenn ich mich nur einen Moment nicht gut genug konzentriere, glaube ich sofort, im Wilden Westen zu sein.
    Da, hinter der nächsten Klippe, muss doch ein Indianerstamm wohnen.
    Und da neben der Brücke kommt doch sicher gleich ein Cowboy auf seinem Pferd geritten.
    Vielleicht sogar Clint Eastwood persönlich?
    Was würde ich jetzt geben, wie Clint Eastwood im Poncho auf einem Pferd durch diese Landschaft zu reiten.
    Stattdessen reite ich im hinteren Teil eines Reisebusses mit.
    Gut, der hat auch deutlich mehr als nur ein klappriges Pferd unter der Haube.
    Wenn in der südlichen Sonne also mal eines schlapp macht, können noch viele andere aushelfen.
    Ein beruhigender Gedanke.


    Nach einer Weile halten wir an einer Tankstelle mitten im Nichts.
    Die hat leider keine NicNacs, aber gerade Putzstunde.
    Der Boden ist so nass und glitschig, dass ich fast darauf ausrutsche.
    Immerhin stehen hier diese "Slippery when wet"-Schilder, die ich sonst nur aus Amerika kannte.
    Nach dem Gebrauch des "baño" möchte ich mir die Hände waschen.
    Doch die Wasserhähne sind irgendwie anders als unsere und nur durch Zufall kann ich einen dazu bewegen, mir kühles H2O zu spenden.
    Und das in dieser kargen Gegend.
    Ein Wunder!
    Kein so großes Wunder ist es, dass es mir nicht gelingen will, den Hahn wieder zu schließen.
    Da kann ich noch so sehr ziehen, drücken, drehen und klopfen.
    Was war nochmal Wasserhahn auf Spanisch?
    Keine Ahnung.
    Also lasse ich den Hahn notgedrungen laufen und gehe.
    Immerhin will ich auf keinen Fall riskieren, den Bus zu verpassen und dadurch mit Señora Gasolina mitten im Nichts gefangen zu sein.


    Nach einer langen Fahrt durch Täler und Berge in dieser surrealen Landschaft und über die dunkelsten Asphaltstraßen der Welt (sponsored by EU) nimmt die Dichte an Industrie- und Gewerbehallen zu und wir nähern uns unserem Ziel.
    Für das, was ich sonst so im Mittelmeerraum kenne, sieht die Gegend viel zu schäbig aus.
    War ich im Flugzeug doch eingeschlafen und wir waren heimlich bis nach Südamerika geflogen?
    Nein, dafür sieht es doch wieder zu ordentlich aus.
    Wiederum südlich von Alpen und Pyrenäen gehört dieser abgeranzte Chic einfach dazu.
    Bald schon kommen dann auch die Wohngebiete.


    Der Bus hält an einem der zentralen Punkte der Stadt, den Torres dels Serrans.
    Hmmm... Serrano-Schinken!..
    Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Bus da nicht halten darf.
    Tut er glücklicherweise aber trotzdem.
    Sofort will ich diese Gegend mit der Kamera festhalten, aber eine Mitreisende warnt mich davor, dass hier geklaut würde wie bei den Zigeunern.
    Ich lasse mich nicht verängstigen und mache Bilder.
    Niemand will mich bestehlen.
    Danach geht es durch enge und schattige Gassen zur Unterkunft.


    Die wird, wie es den Anschein hat, von Engländern geführt.
    Was machen die Engländer hier?
    Geld verdienen.
    Und die Spanier?
    Die arbeiten für die Engländer.
    So sieht es aus im Europa des 21. Jahrhunderts.


    Nach ein paar Querelen die Buchung betreffend beziehen wir unsere Zimmer.
    Die sind mit sparsam noch freundlich beschrieben.
    Billigste Doppelstockbetten auf Fliesenboden garniert mit fleckigen Matratzen sind unsere gemütliche Unterkunft.
    Das ist bis heute die mieseste Absteige, für die ich je Geld bezahlt habe.
    Wir bekommen eine ungefähre Richtung, wo der nächste "Supermercado" ist und fragen auf dem Weg von vielleicht 400 Metern dahin fünf Personen, um den Weg auch wirklich zu finden.


    Dank der modernen Verpackungsindustrie kann man auf den Packungen sehen, was drin ist und muss sich nicht mit dem Wörterbuch herumplagen.
    Ich bemerke, wie uns Polizisten argwöhnisch beobachten.
    Polizisten im Supermarkt?
    Ja, das gibt es hier.
    Wegen uns, den kriminellen Ausländern.
    Oder vielleicht auch wegen der berüchtigten diebischen Einheimischen, wer weiß das schon?
    Auch eine abgebrochene Alte, die sich gerade über die Dosenfrüchte hermachen will, fragt mich direkt, wer ich bin und warum ich hier bin.
    Ich antworte Großinquisitorin Señora Franco und sie scheint doch überrascht zu sein, dass ich ihre Sprache kann.
    Sofort wird sie viel freundlicher, neugierig über unseren Aufenthalt und wünscht uns viel Spaß.


    Zurück im *hust* "Hotel" überschlagen sich die Ereignisse.
    Die Reiseleitung sitzt versammelt im Aufenthaltsraum und teilt uns mit, dass heute Abend der ruhmreiche FC València spielen wird gegen die betrügerischen Hunde von Atlético Madrid!
    Es gibt noch Tickets, aber wir müssen uns beeilen.
    Nach wenigen Sekunden ist klar, dass H, W und ich uns das nicht entgehen lassen.
    Sonst will keiner mit.
    Was für Kulturbanausen.
    Manche wollen doch wirklich schon nach 17 Stunden ins Bett, solche Verlierer!



    Zurück im Zimmer droht der Plan vereitelt zu werden.
    Der fette Torsten quengelt 'rum, man habe uns aufgetragen, das Bad zu reinigen.
    Sofort habe ich eine List ausgeheckt.
    Sie ist allerdings sehr einfach und wird kaum zum Erfolg führen.
    "Torsten", sage ich. "Pass auf, wir werfen jetzt eine Münze, um zu entscheiden, wer von uns beiden das Bad putzt.
    Wenn Kopf kommt, gewinne ich, bei Zahl verlierst du."
    Erstaunlicherweise willigt Torsten ein.


    Nachdem dieses Problem aus der Welt geschafft ist, geht es mit einer ungefähren Vorstellung davon, wo das Stadion sein könnte, ins Getümmel.
    Zum Glück ist es nicht weit entfernt und anhand der immer mehr werdenden Fans in Trikots und Schals deutlich zu orten.
    Als wir um die Ecke biegen und sich das altehrwürdige Estadio Mestalla vor uns auftut, erstarren wir in Ehrfurcht.
    Dass sich ein großes Stadion so inmitten der Stadt in direkter Umgebung zu Wohngebieten befindet, kennt man aus Deutschland kaum noch.


    Auf der Straße vor dem Stadion ist die Hölle los.
    Massen und Massen an Fans singen, feiern, trinken und freuen sich, obwohl das Spiel noch nicht einmal ansatzweise angefangen hat.
    Die vielen kleinen Bars ringsherum sind zum Bersten gefüllt und überall kann man auch von der Straße aus Getränke und Tapas kaufen.
    Mühselig bahnen wir uns unseren Weg zu den Kassen.
    Ja, es gibt noch Tickets.
    25 € das Stück.
    Das klingt günstig und nach kurzer Absprache über die Zahlungsmodalitäten sind die Tickets unser.
    Danach zurück zu den Bars.
    Erst einmal ein paar Getränke geordert.


    Nach einigen Minuten plötzlich ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert.
    Der Bus der dreckigen Madrilenen ist da und versucht, sich in den Bauch des Stadions zu schleichen!
    Nicht mit uns!
    Sofort fliegen alle möglichen Gegenstände auf den Bus und die schönsten Beschimpfungen, die sich in den letzten 2000 Jahren in der spanischen Sprache bilden konnten, werden ausgestoßen.
    Auch ich lasse mich von der Stimmung anstecken und will etwas werfen.
    Aber leider habe ich nichts dabei.
    Da haben die aber noch mal Glück gehabt.


    Nachdem sich der Bus durchkämpfen konnte, beschließen wir, dass wir dem Feind ins Stadion folgen müssen.
    Also ab zur Einlasskontrolle.
    Wo ist die bloß?
    Es gibt rund ums Stadion kleine Türen, aber die können doch höchstens in eine Bodega führen?
    Nein, sie sind wirklich der offizielle Einlass.
    Nachdem wir unseren Eingang gefunden haben, geht die Sicherheitskontrolle sehr schnell.
    Der gemütliche Ordner nimmt es nicht so genau.
    Dann geht es ein abenteuerliches Treppengestell hinauf.
    Wer auch immer hier für die Bausicherheit zuständig ist, muss besoffen sein.
    Das Treppenhaus wirkt, als könnte es von einem Windhauch zu Fall gebracht werden.
    Im Treppenhaus werden wir noch einmal kontrolliert.
    Wahrscheinlich hat sich die Schlampigkeit des Kollegen an der Tür herumgesprochen.
    Endlich erreichen wir den Himmel.
    Ja, den Himmel!


    Oder wenigstens fast.
    Zwischen uns und dem Himmel ist nichts mehr außer reinster Großstadtluft.
    Kein Dach.
    Zum Glück regnet es nicht.
    Ein freundlicher Ordner schaut sich unsere Tickets an und zeigt uns den Weg zu unseren Plätzen.


    Genau über uns befinden sich die Atlético-Fans.
    Wir haben die es nur dahin geschafft, so wie der Bus begrüßt wurde?
    Wahrscheinlich wurden sie direkt von oben eingeflogen.


    Über uns nehmen mehrere Fans Platz, die sich zur kulinarischen Versorgung ein paar Tüten Pistazien mitgebracht haben.
    Diese leeren sie auch während des Spiels.
    Danach ist die ganze Reihe über uns übersät mit Pistazienschalen.
    Das ist gewöhnungsbedürftig, aber als Stadionsnack gesünder als Würste, Burger und was es sonst noch so in Deutschland gibt.


    Zeit, sich das Stadion genauer anzusehen.
    Es gibt eine Haupttribüne, die mit dem Rest des Stadions nicht perfekt abschließt.
    Außerdem ist sie niedriger als die anderen Tribünen.
    Sie besitzt exklusiv ein Dach, die anderen Plätze nicht.
    Wie der Rest des Stadions wird auch sie von bläulich-weißem Flutlicht beleuchtet, ganz im Gegensatz zu der Stadt, die von diesem schummrig-orangefarbenen Licht erhellt wird, das charakteristisch für Mittelmeerregionen ist.
    Die restlichen drei Seiten des Stadions werden von einem Tribünenkomplex umschlossen, der in drei Ränge unterteilt ist.
    Diese beginnen aber je nach Spielfeldseite in unterschiedlicher Höhe.
    Der Unterrang ist jedoch überall der kleinste.
    Es gibt ausschließlich Sitzplätze.
    Abgesehen von der Haupttribüne sind die Ränge ziemlich steil.
    So fühlt man sich doch irgendwie, als würde man stehen.
    Steil genug, dass man Probleme damit hat, die Seitenlinie bzw. die Ecke zu sehen.
    Was sich im Treppenhaus andeutete, setzt sich überall fort:
    Das Stadion ist überall verwittert.
    Die Sitzplätze sind ausgeblichen, die Metallgeländer sind im Stil der 70er oder noch früher gefertigt und auch unter notdürftig aufgetragener Farbe sieht und spürt man die Pockennarben, die der Rost hinterlässt.
    Es ist natürlich gut möglich, dass die Küstenlage schnellen Metalltod befördert, aber das ist auch kein Muss, wie ich später im Camp Nou sehen sollte.
    Die Ultras versammeln sich in der kleinen, gemütlichen, vielleicht schon klaustrophobischen Ecke des Unterrangs von der Haupttribüne aus gesehen hinten rechts.
    Sie schwenken ihre die ganze Ecke einhüllenden Fahnen und singen Lieder, die durch Sprache, Melodie und Stimmlage den Eindruck aufkommen lassen, Europa verlassen zu haben und sich in einem argentinischen Stadion zu befinden.
    Ein Teil des Oberrangs der Tribüne hinterm Tor rechts der Haupttribüne ist zugedeckt von einem riesigen Werbebanner für Estrella Damm.
    Ob das einem Sponsorenvertrag oder allgemeiner Baufälligkeit zuzuordnen ist, kann ich nicht in Erfahrung bringen.


    Der Anpfiff rückt näher, doch vor den kickenden Millonarios der Weltmeisterliga hat eine andere Truppe ihren großen Auftritt.
    Und zwar eine Blaskapelle.
    Die läuft eine Stadionrunde und spielt dabei die Opernarie, die sich hier Vereinshymne nennt.
    Diese opernhaften Hymnen sind allgemein weit verbreitet unter spanischen Fußballvereinen und bieten eine interessante Alternative zu den Rammsch-Rock-und-Pop-Hymnen unserer Breiten.



    Auch das Ansagen der Mannschaftsaufstellung läuft etwas anders als bei uns.
    Während bei uns viele Stadionsprecher den Vornamen des Spielers rufen, damit die Zuschauer den Nachnamen brüllen, nennt der Stadionsprecher hier den Namen des Spielers, oft nur den Nachnamen oder den Rufnamen, der auf dem Trikot steht, und die Zuschauer rufen geschlossen "Hey!"
    Ich nehme an, dass das daher kommt, dass viele spanische und auch brasilianische Spieler so lange Namen haben, dass die unmöglich zu rufen wären.
    Viele nehmen sich deshalb irgendeinen Teil ihrer langen Namen bzw. sogar einen Spitznamen und schreiben den aufs Trikot.
    So wird z.B. aus Ronaldo de Assis Moreira ganz einfach Ronaldinho.
    Da somit nur noch ein Name übrig bleibt, der sich schlecht teilen lässt, scheint das für Stadionsprecher die beste Lösung.
    Das merkt man auch daran, dass deutsche Stadionsprecher regelmäßig in Bredouille geraten, wenn sie solche Namen in ihre Ansagen einbauen wollen.


    Dann kommen unter großem Applaus die Spieler aufs Feld, das Spiel soll bald beginnen.
    Wie es der Zufall so will, ist an diesem Abend València Spitzenreiter der Primera División.
    Wenige Monate nachdem die Nationalmannschaft Weltmeister wurde.
    Mehr geht also wirklich kaum.
    Trotzdem bleiben ein paar Plätze leer.
    Es ist die Zeit, in der die Wirtschaftskrise den Süden Europas fest im Griff hält.
    So muss manch einer auch bei vergleichsweise moderaten Preisen auf die Bars in der Umgebung ausweichen.


    Mit Anpfiff erwachen die vielen Auswärtsfans, die uns fast im Nacken sitzen.
    Wenn einer von denen über die aus einem dünnen, niedrigen Metallzaun bestehende Absperrung springt, könnte er sogar noch über mich drüber springen und vorne wieder über das Tribünenende hinaus, so nah sind sie.
    Trotz der brenzligen Tabellensituation bleiben sie die ganze Zeit friedlich und die ungewöhnliche Nähe zwischen Heim- und Auswärtsfans hat keine negativen Konsequenzen.
    Zwei rhythmisch vorgetragene Fangesänge erfüllen bald meine Ohren, dann meinen Kopf und schließlich meine ganze Welt.
    Es gibt nichts mehr auf dieser Welt außer dem grünen Rasen und den Fangesängen.
    Der eine Gesang ist "Uruguayo, uruguyao!" und dient der Huldigung des Diego Forlán.
    Der andere ist "Atléééé-ti, Atléééé-ti, Atlé-ti-co Ma-drid" oder einfach nur ein unendlich wiederholtes "Atléééé-ti".
    Was wissen diese krawallierenden, Gegenstände schmeißenden Bauern aus València schon von wahrer Schönheit im Fußball?
    Die Lyriker und Kunstfreunde des runden Leders kommen aus Madrid.
    Ja!
    Ich werde zum Atléti-Fan und will meine rot-weißen Helden siegen sehen!
    ATLÉÉÉÉÉTI!!!


    Dank meines neu entdeckten Fantums ist es auch endlich so weit und die wahren Königlichen aus der Hauptstadt gehen in Führung.
    Ernüchterung unter mir, Ekstase über mir.
    Wie kann ich mich bloß in den Auswärtsblock schmuggeln?


    In der Halbzeit habe ich die Gelegenheit, die Zuschauer etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
    Für mich auffällig:
    Alte Spanier, vor allem, wenn noch nicht zu fett, vermitteln mir sofort den Eindruck, ausnahmslos ruhige und die Weisheit der Welt erlangte Philosophen des Lebens zu sein, die sich mit Fußball irdischen Vergnügungen zur Ablenkung hingeben wollen, das aber nur schlecht gelingt und sie auch mühelos die Essenz des Fußballs in einfachen Worten auszudrücken in der Lage zu sein vermögen gehabt werden.
    Wäre Aristoteles noch am Leben, er wäre heute Abend im Stadion.


    In der Halbzeitpause postiert sich ein dicker Anhänger der Heimmannschaft auf dem Gang zwischen den Sitzreihen, der offensichtlich schon ein paar Sterne zu viel in seine Obhut nahm.
    Er hält eine herzzerreißende Rede, dass alle wahren Fans aus València jetzt ordentlich Stimmung machen müssen, um die Helden zu Toren anzutreiben.
    Sogleich beginnt er mit Gesängen für die eigene und gegen die andere Mannschaft, deren Fans in höchstens fünfzehn Metern Entfernung alles halb belustigt, halb verwundert beobachten.
    Zwar kriegt er kaum jemanden dazu, in der Halbzeit wildeste Gesänge loszulassen, aber mein Herz hat er gewonnen.
    Auch ich will jetzt, dass meine Gastgeber das Spiel noch erfolgreich beenden.


    Je länger das Spiel dauert, desto wütender werden die Angriffe Valèncias.
    Die Anfeuerungen werden lauter und lauter.
    Jede Ecke, jeder Einwurf wird jetzt bejubelt, als wären sie das Meistertor.
    Obwohl sie hinter mir stehen, sind die Atlético-Fans kaum noch zu hören.
    Als dann endlich der verdiente Ausgleich fällt, springen alle in die Höhe und das ganze Stadion steht Kopf.
    Jetzt haben die Fledermäuse alles und alle in der eigenen Gewalt.
    Immer weiter rollt die Angriffswelle, aber trotz guter Chancen will das Siegtor nicht gelingen.
    Die Partie endet unentschieden und die alten Philosophen würden mir sofort sagen, dass es gerecht sei.


    Macht's gut, Atléti-Fans.
    Ihr müsst hier noch bleiben, während wir gehen sollen.
    Es war schön mit euch, aber trotz eurer exzellenten Unterstützung hat es nicht zum Sieg gereicht.


    Durch das Treppenhaus geht es wieder hinab und mit dem Blick durch die luftigen Metallkonstruktionen erscheint es mir sogar noch viel abentuerlicher als beim Aufstieg.
    Zusammen mit der feiernden Fanmasse strömen wir zurück Richtung Stadtzentrum und setzen uns dort am Jungfrauenplatz in ein Café, das gerade noch geöffnet hat.
    Ich schaue auf die Uhr.
    Es ist mittlerweile nach Mitternacht.
    Noch immer sind um die 20 °C.
    Ich bin fast 24 Stunden wach, was ich jedoch nicht spüre.
    Höchstens 5-6 Stunden Schlaf stehen mir bevor, in Wahrheit werden es deutlich weniger, aber auch das spüre ich nachher nicht.


    Noch beim Einschlafen habe ich den Geschmack von Pistazien im Mund, die Atlééééti-Rufe im Ohr und das sich in ein Tollhaus verwandelnde Stadion vor Augen.


    Eigentlich war vorgesehen, dass dieses Spiel schon im Nou Mestalla stattfinden sollte, aber Geldprobleme verlängern das Leben des alten Kastens mitten in der Stadt immer weiter.
    Was ich durchaus gut finde.
    Es ist kein Wohlfühlstadion wie andere moderne Arenen und spottet deutschen Bauvorschriften, aber hier atmet der Fußball Geschichte.


    Am nächsten Tag gehe ich mit H in den Bahnhofskiosk.
    Wir suchen aus Erinnerungsgründen Zeitungen, die Spielberichte des gestrigen Spiels haben.
    Allerdings ist der Verkäufer mit sehr mieser Laune aufgestanden und blafft uns nach ein paar Minuten an, dass wir hier entweder was kaufen oder sofort verduften sollen.
    Das sei keine Bibliothek.
    Dann frage ich ihn direkt, ob er Zeitungen kennt, die unsere Wünsche erfüllen können.
    Er sagt nur schmallippig: "Kaufen oder gehen!"
    Also lasse ich den Stapel Zeitungen, die ich schon herausgesucht hatte, mitten auf den Boden fallen und gehe.
    Er wollte es so.


    Ein paar Meter weiter finden wir einen der vielen Fanshops, in dem man uns mit allem versorgt, was wir wollen.
    Auch ein Stadionprogramm des gestrigen Abends ist dabei.


    Über den Rest der Reise verteilt sehe ich auch noch weitere Mannschaftsbusse großer Mannschaften. Real Madrid und Villarreal sind dabei.
    In der Sammlung der ganz Großen fehlt eigentlich nur Barça, aber die lassen sich dieser Tage nicht in der Gegend blicken.



    Dem fetten Torsten gefiel am Ende übrigens Spanien.
    Also, außer den Leuten, dem Essen, dem Wetter, dem Hotel, dem Meer, den Reisen, den Sehenswürdigkeiten, der Stadt, den Bars, den Läden, der Sprache, den Aktivitäten und den Flügen.
    Aber sonst fand er Spanien ganz toll, sagt er.

  • Kapitel 3: Nordhausen



    in dem ich die alleinige Macht über das Spielergebnis bekomme


    Auswärtsfahrt nach Nordhausen.
    Lok befand sich in einer noch schlechteren Situation als heute und war nach dem 11. Spieltag Tabellenletzter.
    Der neue Trainer Heiko Scholz hatte sein Debütspiel gegen den späteren Meister Neustrelitz verloren und das erste Heimspiel gegen Plauen torlos unentschieden gespielt.
    In Nordhausen sollte endlich der zweite Saisonsieg her.
    Leicht würde es nicht werden.
    Aber auch die Fans waren optimistisch, brachten sie doch Dutzende „Auswärtssieg“-Pappen mit in die thüringische Provinz irgendwo zwischen Harz, Kyffhäuser und Autobahn.


    Ich war extra früh angereist, weil ich noch nie dort war und fragte am Eingang, wo ich hinmüsse.
    Da sagte man mir, hinterm Stadion entlang auf die andere Seite.
    „Hinterm Stadion“ war ein Trainingsplatz, der durch das nasskalte Wetter der letzten Tage durchweicht war und auch meine Schuhe zentimetertief einsinken ließ.
    Das war kein Fußballfeld mehr, sondern ein grober Acker.
    Irgendwie klappte die Abstimmung der Ordner nicht und es kam Skepsis auf, warum ich vom Acker angelaufen kam und nicht wie alle anderen Auswärtsfans einen separaten Eingang nahm.
    Aus den Gesprächen der Ordner ergab sich, dass sie mich wieder über den Acker, der die Länge eines Fußballfeldes maß, zurückschicken wollten, um dort mit den Eingangsordnern erneut zu sprechen, nur damit ich wohl um das ganze Vereinsgelände herumlaufe und an selber Stelle wieder von außen ankomme.
    Wegen so viel dreister Schildbürgerei zum Sonntag musste ich ein wenig lauter werden und schon ließ man mich ein.
    Ich ging gleich ganz durch in die andere Ecke, falls die Ordner es sich doch noch anders überlegten.
    Dort sah ich einen Leuchtmast und daneben ein kleines Häuschen, das durch eine Tür geöffnet war.
    In dem Häuschen saß ein Mann und versuchte, der Kälte zu entfliehen und auf dem Häuschen saß stoisch die elektrische Anzeigetafel.


    Es war noch viel Zeit bis zum Anpfiff.
    Darum fragte ich den Mann, was er da tat.
    Er ließ mich zu sich in das Häuschen und dort sah ich eine große elektrische Anlage, die von einem VEB aus Leipzig gefertigt worden war, wie eine metallene Plakette stolz verkündete.
    Aha, ein Stück Heimat im Feindesland!
    Der Mann erklärte mir, dass er von hier aus nicht nur das Licht, sondern auch die Anzeigetafel steuerte.
    Wir verstanden uns gut genug, dass er mir erlaubte, das Spiel bei ihm zu verbringen.
    Ich sollte ihn als Gegendienst doch bitte warnen, falls ein Tor fällt.
    Denn um etwas zu sehen, musste der Mann immer aus seinem Häuschen herauskommen, einmal um die Ecke gehen und das Spiel beobachten.
    Auch ich musste mich immer dann etwas näher ans Spielfeld stellen, wenn der Ball in der anderen Hälfte war, weil ich sonst nichts davon sah.
    Irgendwie sind solche Schrulligkeiten sympathisch, wenn seit Jahren so ein massiver Unsinn besteht und sich die Leute schon so daran gewöhnt haben, dass es ihnen vielleicht schon nicht mehr auffällt.
    Noch sympathischer ist, dass ich mich beim nächsten Spiel nicht mehr damit herumplagen muss.


    Langsam kamen die Zuschauer und ich betrachtete das Stadion etwas genauer.
    Es besteht aus vier langen Tribünen, die in den Ecken nicht verbunden sind.
    Die Auswärtsgerade hinterm Tor hat ausschließlich Stehplätze.
    Im Heimbereich gibt es hinter den Werbebanden der langen Haupttribüne drei oder vier Reihen Plastikbänke hintereinander, dahinter eine weiße Wand mit Stützen und oben drüber in Zimmerhöhe ein flaches Wellblechdach, wenn ich mich hinsichtlich des Materials richtig erinnere.
    Die Gegengerade ist ebenfalls nicht überdacht und bietet Stehplätze.
    Auf dem Dach der Haupttribüne ist die Kabine des Stadionsprechers, die über eine Leiter vom Trainingsplatz aus erreicht werden kann. Sie hat Ähnlichkeit zu einem alten Flughafentower.
    Vielleicht kann man von da aus die heranfliegenden Schwalben besonders gut erkennen.
    Insgesamt wirkt das Stadion wie Stückwerk.
    Keine der vier Einzeltribünen will so recht zu den anderen passen und ein stimmiges Gesamtbild ergibt sich erst gar nicht.
    Ausgenommen der Tatsache, dass man ein beklemmendes Engegefühl bekommt.
    Es fühlt sich mehr nach Knasthof mit Acker in der Mitte als nach Sportplatz an.
    Die Wände hinter den sehr kleinen Tribünen erinnern an einen Garagenhof, wenn man nicht genau hinschaut.
    Den einzigen Vorteil, des das Stadion hat, ist die fehlende Laufbahn, wodurch man schön nah am Spielfeld ist.
    Die Architekten haben es geschafft, hier eine Ausgeburt der Hässlichkeit und Trostlosigkeit auf Dorfplatzniveau hinzubekommen.
    In etwa so wie das Stadion in Lotte, nur viel kleiner und weniger modern.
    Das muss man auch erst einmal schaffen.
    Wie man mit dieser Hütte auch nur ansatzweise davon träumen kann, Dritte Liga zu spielen, ist mir ein Rätsel.
    Angeblich dürfen 8000 Leute in das Stadion.
    Vielleicht, wenn noch ein paar Tausend auf den Dächern geparkt werden.
    Ansonsten frage ich mich ernsthaft, wieso in Nordhausen 8000 Leute rein dürfen und im Plache-Stadion gleichzeitig jahrelang nur 4999 zugelassen waren.
    Irgendein Entscheider muss kräftig Terpentin gesoffen haben.


    Meine im Matsch steckenden Füße wurden langsam taub vor Kälte und dann fing das Spiel endlich an.
    Schon nach wenigen Sekunden gelingt Steve Rolleder der ersehnte Führungstreffer.
    Jener Rolleder, der sich später auf dem Oktoberfest mit Heino Ferch anlegte und dessen Streit ein paar Ultras zum Anlass nahmen, die „Gruppo Anti Ferch“ mit Bierglas im Emblem zu gründen.
    Wegen des lauten Jubels aus dem Gästeblock gleich nebenan musste ich gar keinen Hinweis geben, dass ein Tor gefallen war.
    Das Spiel tröpfelt dann ein wenig dahin, bis es einen Elfmeter gab.
    Und zwar gegen Lok und nur wenige Meter von mir entfernt.
    Sollte der schöne Vorsprung schon wieder dahin sein?
    Nein!
    Torwart Braunsdorf hält den Elfer.
    Und nicht nur das.
    Kurz vor der Halbzeit erhöht Rico Engler auf 2:0.
    Da gucken die Thüringer Würstchen aber schön blöd.


    Apropos.
    In der Pause kommt mir die Idee, dass ich in Thüringen auch mal eine Rostbratwurst probieren könnte, aber leider sehe ich keine Möglichkeit, an eine ranzukommen, ohne meinen schönen Sonderplatz zu riskieren.
    Also muss ich das auf später verschieben.


    Spät in der zweiten Halbzeit kommen die Hausherren durch Löhmannsröben, der später in Magdeburg und Jena spielte und derzeit in Kaiserslautern, noch zum Anschlusstreffer, weshalb noch einmal Spannung aufkommt.
    Es gibt kräftig Nachspielzeit und in der 95. Minute gibt es noch einmal Ecke für Nordhausen.
    Der Ball kommt und wird dann im Strafraum sehr hoch verlängert.
    Eigentlich keine Gefahr, den fängt jeder Torwart, außer vielleicht Eigentor-Piplica, der später noch in Nordhausen Torwarttrainer werden sollte.
    Doch es kommt anders.
    Der Ball sinkt wieder nach unten und schon jubeln die Fans aus Nordhausen.
    Das kann doch nicht wahr sein!
    So eine unfassbare Ungerechtigkeit darf es nicht geben.
    Und tatsächlich.
    Der Schiedsrichter hat ein Einsehen und pfeift das böse Tor weg.
    Begründung: Braunsdorf wurde während des Fangens so angegangen, dass es zu einem unfairen Vorteil der Heimmannschaft kam.
    Also kein Tor, Spiel vorbei, Punkte da.
    Und endlich der Abschied vom Eisacker von Nordhausen.
    Dem geknickten Chef der Anzeigetafel wünsche ich noch ein schönes Leben und dann geht es ab über den matschigen Trainingsplatz zurück zum vierrädrigen Freund.
    Auf dem Parkplatz bekomme ich noch mit, wie eine Fotografin ihre Bilder schnell an die Redaktion schicken will, was aber nicht gelingt, weil das Internet in Nordhausen zu schlecht ist.


    Auf der A38 fange ich unvermittelt an zu lachen.
    So etwas sollten sie mal im Vorabendprogramm senden.
    Ein Provinzverein, der mit einer Wellblechhüttensammlung in den Profifußball will, gestützt von einem jedes Jahr fetter werdenden Gernegroß-Präsidenten, dessen Ordnern das Hirn brutzelt, wenn mal mehr als 50 Mann kommen und dazu noch Anzeigentafel-Harry, der die Ergebnisse so anzeigen lässt, wie er sie auf seinen Kontrollgängen mitbekommt.
    Na ja, vielleicht werden ihm die Tore auch vom Wachturm auf der Tribüne gefaxt.
    Denn mit Internet ist es ja nicht so.
    Die Bühne für all diese Kuriositäten ist eine Stadt, deren Existenzgrundlage eine Runde Gedächtnisverlust ist.


    Besuchtes Spiel: Wacker Nordhausen - Lok Leipzig, Regionalliga, 03.11.2013.

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  • Also erstmal :klatsch::nuke:

    Irgendein Entscheider muss kräftig Terpentin gesoffen haben.

    Ich tippe eher auf eindeutig zuviel Gratispröbchen hiervon. :drink:

    Drei Buchstaben, zwei Farben, eine Gemeinschaft

    Pivotechnik ist kein Verbrechen
    :drink:


    Lerne Schweigen ohne zu Platzen

  • Irgendwie scheint es in Nordhausen immer zu regnen. Ich glaube, die melken die Wolken für ihren komischen Korn.

    Nanakorobiyaoki

  • Kapitel 4: Nordhausen


    in dem die Auswechseltafel des Platzes verwiesen wird, Ü-70-Hools die Regeln auf den Kopf stellen und alte Herren spazieren gehen


    Nordhausen ist immer keine Reise wert und genau deswegen war ich da.
    Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich dort das kurioseste Fußballspiel meines Lebens sehen würde.


    Beide Vereine hatten erst kurz vorher ihre Trainer gewechselt, für Nordhausens Berbig war es sogar das erste Heimspiel.
    Lok wollte die Auswärtspunkte genauso wie Nordhausen die Heimpunkte.
    Lok-Trainer Joppe kündigte vorher an, dass man keinen hochklassigen Fußball sehen würde.
    Ich war gespannt.


    Weil ich nicht wieder Streit mit den Ordnern anfangen wollte, besorgte ich mir zur Abwechslung mal Zutritt für den Heimbereich und das sollte sich noch richtig lohnen.
    Ich stelle fest: Das Stadion ist noch ganz genauso hässlich wie in meiner Erinnerung.
    Außerdem scheint man sich im Heimbereich auf allen Tribünen frei bewegen zu können.
    Blocktrennung findet nicht statt.
    Nur die bösen Auswärtsfans sind im Käfig gefangen, aber das wird an diesem Abend noch ein Fehler sein.


    Im Stadion angekommen habe ich ein paar Fotos für euch gemacht. Ihr seht sie ganz unten verlinkt.
    Auf eine weitere Beschreibung des Stadions verzichte ich, denn das kann man etwas weiter oben nachlesen.
    Ungewöhnlicherweise regnete es nicht, dafür war es bitterkalt.


    Nun zum Spiel:
    Es ging ziemlich flott auf beiden Seiten los, doch bald verflachte das Spiel und fand nur noch im Mittelfeld statt.
    Beide Mannschaften neutralisierten sich gegenseitig.
    Dann folgt ein schneller Pass der Nordhäuser und Ex-Ratte Kammlott steht frei vorm Tor.
    Er schießt, Torwart Kirsten hält, ihm rutscht aber der Ball durch, Kammlott kommt dran, schießt erneut, Tor für Nordhausen.


    Denken alle!
    Stattdessen kommt es zu einem Schiedsrichterkränzchen an der Seitenlinie und bald ist klar:
    Doch kein Tor.
    Warum, weiß niemand.
    Anscheinend wegen Abseits, aber es war kein Abseits.
    Zu diesem Zeitpunkt war der Ruhepuls der gesamten Nordhäuser Bank auf 180.
    Auch Auswechseltafel-Johnny schüttelte dauernd den Kopf und gab seit Anpfiff permanent seinen Senf zum besten.
    Wohlgemerkt nur ca. 3 Meter von beiden Trainern entfernt.
    Der Schiedsrichter wurde von der Nordhäuser Bank wüst beschimpft und das Spiel ging weiter.


    Nächster Aufreger in der 34. Minute.
    Loks Sascha Pfeffer wird von Becker taktisch gefoult.
    Alle rechnen mit einer gelben Karte, aber weil es zu einer Rudelbildung kam, beraten sich die drei Schiedsrichter noch einmal auf dem Feld und stehen dabei so herum wie Thälmann-Pioniere, die dem zuständigen Sesselfurzer stolz eine Nachricht ihrer Gruppe überbrachten.
    Danach gab es für Becker die Rote Karte.
    Trainer Berbig war nun der festen Überzeugung, dass die Lok-Bank dem Schiedsrichter einfach Wünsche mitteilte, wie der entscheiden soll und der würde das sofort so machen.
    Dies ist eine passende Gelegenheit, um vor den Folgen des Doppelkornkonsums zu warnen.


    Dann Pause.
    Die Stimmung in Nordhausen ist angespannt.
    Ich rechne damit, dass jeden Moment Nordhausenfans den Rasen stürmen, um dort "Wir sind das Volk" zu rufen.


    Halbzeit zwei:


    Nach einem munteren Beginn von Lok in Überzahl lässt sich nach einem Freistoß Propheter von Nordhausen im gegnerischen Strafraum einfach mal fallen und es gibt Elfmeter.
    Kirsten kann den nicht halten und es steht 1:0.


    Dann kommt sie, die legendäre 57. Minute.
    Es folgt für mich die Fußballsituation des Jahres!
    Es beginnt wenig spektakulär.
    Loks Adler wird vor der Trainerbank bereits am Boden liegend gefoult.
    Der Schiedsrichter pfeift Freistoß.
    Joppe gibt dem Spieler, der gefoult hat noch ein paar Worte mit auf den Weg.
    Das wiederum ruft Propheter auf den Plan, der Kopf an Kopf mit Joppe geht (warum fällt mir jetzt nur der Name Norbert Meier ein?).
    Im Verlauf dieses Streits greift Propheter Joppe am Kragen und zieht ihn ganz nah heran.
    Kurz fürchte ich, dass gleich Blut fließt.
    Doch es kommen weitere Spieler und Schiedsrichter dazwischen und wollen die Lage klären.
    Joppe erhält einen Platzverweis.
    Den will er auch antreten, aber als er in den Zuschauerraum gehen will, wird er von rabiaten Oppas am Spielfeldrand angegriffen.
    Das löst die nächste Rudelbildung aus. Auch einige Oppas sind jetzt munter mit dabei.
    Ein Oppa entdeckt sogar seinen Drang, sich zu bewegen und schlendert erst einmal munter übers Spielfeld.
    Wahrscheinlich hat er sich mit seinen Mitoppas beraten und will dem Schiedsrichter jetzt die gemeinsame Sicht der Dinge darlegen.
    Die beiden einzigen Ordner vor Ort sind vollkommen überfordert.


    Eigentlich will ich gar nicht, dass weitergespielt wird.
    Was neben dem Platz passiert, ist deutlich amüsanter.
    Aber dann geht es doch weiter.


    Kurz danach kommt es zum nächsten Elfmeter.
    Loks Gottschick wird im Strafraum gefoult.
    Auch wieder Tor.
    Unentschieden nach zwei Elfmetern.


    Aber das Spiel wäre nicht dieses Spiel, wenn es das schon gewesen sein sollte.
    Nach einer Lok-Ecke kurz danach bekommt Nordhausen eine Konterchance.
    Zwei Spieler der Heimmannschaft und zwei der Gäste laufen gemeinsam auf das andere Tor zu.
    Doch Pommer stürzt sich ganz ähnlich wie beim American Football auf den stürmenden Nordhäuser und schon ist der schöne Konter kaputt.
    Die Trainerbank Nordhausens kocht.
    Immer wieder wird "der ist alleine durch" und "letzter Mann" gerufen, was beides nicht der Wahrheit entspricht.
    Außerdem scheint es sich noch nicht bis nach Nordhausen herumgesprochen zu haben, dass "letzter Mann" zu sein nicht ausreicht, um nach einem Foul eine Rote Karte zu geben.
    Es muss eine klare Torchance vorhanden sein und diese will ich bei einem weiteren Verteidiger, einem Torwart und einer Mittellinie, die noch zwischen Ball und gegnerischem Tor waren, erst einmal belegt sehen.
    Trotzdem kann sich die Bank einfach nicht beruhigen, sodass sich der Schiedsrichter gezwungen sieht, einen weiteren Betreuer Nordhausens von dannen zu schicken.
    Dann kehrt immer noch keine Ruhe ein, denn der schon das ganze Spiel über zeternde Auswechseltafel-Johnny platzt jetzt auch vor Wut und wird als nächstes verbannt.
    Alle weiteren Einwechslungen werden nun ohne Anzeigetafel vorgenommen.


    Die Anzeigetafel könnte eigentlich Lok-Trainer Joppe übernehmen.
    Wie, Joppe?
    Ist der nicht auch vom Platz geschickt worden?
    Ja, aber, wir erinnern uns, die radikalen Oppas haben ihn einfach nicht in den Zuschauerraum gelassen.
    Also musste er wohl oder übel in einem Freiraum zwischen Zuschauerraum und Trainerbänken bleiben, was den kuriosen Effekt hatte, dass er zwar hinter einer Werbebande stand, aber genau genommen nur zwei Meter weiter vom Feld entfernt als vor seinem Platzverweis.
    Von dort aus konnte er genauso gut Kommandos reinrufen und sich mit dem Trainerteam absprechen, das ungehindert mit ihm kommunizieren konnte, wie es wollte.
    Ich glaube, so ähnlich war das auch mit dem Knast und einigen Edelmafiosi.


    Auf die Idee, dass man Joppe immer noch in den Gästeblock schicken könnte und er dort wohl nicht auf Feindseligkeiten stoßen würde, kam der Schiedsrichter nicht.
    Obwohl, das stimmt so nicht ganz.
    Ganze drei Schiedsrichter kamen nicht auf diese Idee.


    Im Spiel selbst passierte nicht mehr viel Spannendes.
    Ich kann noch erwähnen, dass Hartmann sich circa eine Viertelstunde vor Schluss bereit machte, eingewechselt zu werden.
    Er stand auch brav an der Seitenlinie und wartete und wartete.
    Der durch den Platzverweis zum verantwortlichen Trainer beförderte Ronny Surma, der gleichzeitig auf der Auswechselbank saß und sich somit theoretisch selbst hätte einwechseln können und damit die spannende Frage losgetreten hätte, wer dann eigentlich die Trainerverantwortung trüge, ließ ihn einfach nicht einwechseln.
    Als es dann in der Nachspielzeit so weit war, hatte das zur Folge, dass Hartmann vielleicht fünf Sekunden auf dem Platz war und das Spiel nicht wieder angepfiffen, sondern stattdessen abgepfiffen wurde.


    Wie mir beim letzten Besuch das Anzeigetafelhäuschen in Erinnerung blieb, werden es diesmal Auswechseltafel-Johnny und die Hooligan-Rentner sein.
    Herrlich, das muss man einfach erlebt haben. :D



    Bilder:


    Das berühmte Häuschen, oben rechts
    Der Auswärtsblock


    Die Trainerbänke


    Die Heimat der Nordhausen-Ultras


    Oppa läuft übers Spielfeld


    Besuchtes Spiel: 02.11.2018, Regionalliga Nordost: Wacker Nordhausen - Lok Leipzig

  • Vorsicht vor den Kampf-Oppas. Das sind sicher noch alte Hauer aus der guten alten Zeit, als es nicht um Pyro ging, sondern nur um die Hauerei.

  • Kapitel 5 – Leutzsch


    In dem ich an einer kostenlosen Stadtrundfahrt mit Polizeieskorte teilnehme, die deutsch-japanische Freundschaft einen Höhepunkt erfährt, ahnungslose Passanten vom Staatsfunk belästigt werden und Leutzsch das neue Tal der Ahnungslosen wird


    Derby! Derby! Derby!
    Es gibt kein schöneres Spiel als ein handfestes Derby!
    Ein waschechtes hatte es in Leipzig aber seit etlichen Jahren nicht gegeben.
    Zwischendurch spielte immer mal die erste Mannschaft gegen die zweite des anderen oder Jugendmannschaften gegeneinander oder manchmal auch jemand gegen Red Bull oder die Korruptionsprodukte von Inter Merda.
    Derbys jedoch waren das alles nicht.
    Ein paar Mal traf der 1. FC Lok auf den sich im Sinkflug befindlichen FC Sachsen.
    Das war ein Derby zu 95+%.
    Jedoch, dass der 1. FC Lok und die BSG Chemie unter diesen Namen mit ihren ersten Herrenmannschaften aufeinander trafen, hatte es seit den Zeiten des Mauerfalls nicht mehr gegeben.
    Also endlich wieder Derby!


    Im Vorfeld tauchten in der ganzen Stadt mehrere neue Graffiti beider Vereine auf.
    Wenige Tage vor dem Spiel wurden Strohpuppen in grüner Kleidung von Autobahnbrücken rund um die Stadt baumeln gelassen.
    MDR Brisant nutzte dir Gelegenheit, wunderschönsten Empörungsjournalismus zu zelebrieren und offensichtlich vollkommen fußballferne Leute zu diesen tragischen Ereignissen zu interviewen.


    Das alles sollte der Derbyfreude aber keinen Abbruch tun. Natürlich war das Spiel in Windeseile ausverkauft.
    Leider fand das Spiel im Leutzscher Holz statt und deren Stadion war immer noch auf 4.999 Zuschauer begrenzt.
    Hauptverantwortlich dafür ist die einsturzgefährdete Tribüne.
    Es ging um das Sachsenpokal-Viertelfinale und weil es ein aufreibendes Derby war, wollte auch der Heimatsender Quote machen und verlangte somit den Anpfiff um 13 Uhr.


    Schon einige Stunden früher mussten sämtliche Auswärtsfans, die die beschwerliche Reise ins Feindesland mitmachten, vor Ort sein, um auch eingelassen zu werden.
    Und zwar im Bruno-Plache-Stadion!
    Wieso das, hatte man beim Verband, der Polizei oder gar bei den Chemikern selbst Weisheit Vorzug vor Irrsinn gelassen und das Spiel in eine würdige Spielstätte verlegt?
    Mitnichten!
    Jedoch hatten Staatsmacht, Stadtpolitik, beteiligte Vereine und wahrscheinlich sogar Karel Gott so eine tief sitzende und am Gewissen nagende Furcht vor den marodierenden, brandschatzenden, Kinder zerstückelnden, revolutionären, Staatsstreich initiierenden, politisch extrem angehauchten, keine Gnade kennenden, witwenmachenden Berufshooligans beider böser Problemvereine, die in der Wahrnehmung und Strahlkraft an sonnigen Tagen hinter dem Glanz der zwangsbeglückten RB-Kunden zurücktreten, aber an diesem finsteren Tag im Herbst mit all ihrer Brutalität ins Scheinwerferlicht toben und dabei das mühselig aufgebaute Image eines bunten Heile-Welt-Hypezigs ankratzen könnten, dass Fanmärsche und jegliche Form einer individuellen Anreise für Lok-Fans direkt verboten wurden.
    Das ist natürlich besonders amüsant für alle Lok-Fans, die in fußläufiger Entfernung zum Alfred-Kunze-Sportpark wohnen und nun vier Mal durch die ganze Stadt reisen müssen.
    Wer eine Eintrittskarte ergattern konnte, musste sich also bereits gegen zehn Uhr morgens im eigenen Stadion eingefunden haben.
    Da das Spiel auch als Public Viewing im Stadion gezeigt wurde, kamen hier viele Lokfans gemeinsam an und mussten sich später trennen.
    Als laut durchgesagt wurde, dass alle Besitzer einer gültigen Eintrittskarte jetzt zum Stadioneingang kommen sollten, wurden die wenigen glücklichen Auserwählten von den zum Bleiben Verdammten so auf das Spiel eingeschworen und verabschiedet, als wären sie selbst die Spieler.
    Auch ich gehörte zu denen, die ins sozialistische Ausland reisen durften.
    Ich wusste eben schon immer, dass ich ein Messias bin. :D


    Inzwischen war die Connewitzer Straße vorm Stadion von der Polizei zu diesem Zweck abgesperrt worden.
    Zehn Reisebusse der Leipziger Verkehrsbetriebe standen hintereinander in Blickrichtung Prager Straße vorm Stadiongelände und warteten, dass diejenigen, die mit durften, einstiegen.
    Vor dem Einsteigen wurde kontrolliert, ob man auch wirklich eine Karte bei sich hatte und auf einer Liste abgehakt.


    Als dann endlich alle eingestiegen waren, was etwas länger dauerte, weil viele Frauen, die an der Heimatfront bleiben würden, ihre Männer, die nun in den Krieg zogen, herzlich und mit Tränen im Auge verabschiedeten, starteten die Polizeimotorräder vorweg zu fahren und die Busse hinterher.
    Die erste unangenehme Überraschung kam schon nach zwei Straßenecken.
    Anstatt an der Kreuzung links auf die Prager Straße und damit in Richtung Stadtzentrum/Leutzsch abzubiegen, ging es nach rechts und dann gleich wieder nach rechts.
    Es ging die Chemnitzer Straße entlang.
    Ich bekam eine leise Vorahnung und tatsächlich, bald kam die Justizvollzugsanstalt ins Blickfeld!
    Das wird doch wohl kein Täuschungsmanöver gewesen sein?
    Einfacher wäre es für die Staatsgewalt nie gewesen, ein paar unliebsame Problemfans verschwinden zu lassen.
    Ich sah mich schon eine Eisenkugel tragend Steine klopfen, aber zum Glück fuhren dann doch alle Busse am Eingang vorbei.
    Ha!
    Ihr kriegt uns niemals lebend!


    Die Fahrt ging weiter durch das beschauliche Dölitz-Dösen, in dem in etwa so viel los ist, wie der Name erwarten lässt.
    Von hier ist es gar nicht weit bis nach Connewitz.
    Die werden uns doch nicht wohl noch gemeineren Subjekten ausliefern wollen?
    Nein, die Fahrt geht weiter und das dank vieler Polizeisperren auf der Strecke ganz ohne Halt und Zwischenstopp.
    Auch nicht an roten Ampeln.
    Es hat schon etwas für sich, wenn der Verkehr für einen lahmgelegt wird.
    Alleine schon dafür lohnt es sich, eine Karriere als Staatschef, Fußballprofi oder Problemfan anzustreben.


    Dann erfolgt die Auffahrt auf die B2.
    Mit ihr werden wir an Connewitz vorbeigeschleust, es geht durch den Johannapark, bald kommt die Sporthochschule.
    Moment mal, die werden doch nicht?
    Doch, sie werden!
    Die Polizei hat Humor.
    Zehn Linienbusse voller Lok-Fans und teilweise –Hooligans werden in Derbystimmung direkt am Rattentempel vorbeigefahren.
    Sofort ertönen Pfeifkonzerte und Schmährufe.
    Die Polizei soll den Konvoi stoppen und uns raus lassen!
    Es ist genug Mannstärke vorhanden, um das Elend hier und jetzt zu beenden!


    Aber leider hält nichts an und wir werden weitergefahren.
    Über die Brücke geht es rüber nach Leutzsch.
    Die Busse biegen ins Villenviertel ein und halten am Betriebshof der LVB an.
    Da werden wir rausgelassen.
    Es geht durch den berühmt-berüchtigten Tunnel unter den Bahngleisen hindurch und von dort werden wir das Stück zum Stadion eskortiert.


    Nirgends sieht man andere Menschen.
    Die Polizei hat das Gebiet weiträumig abgesperrt, Helikopterdröhnen schwillt an und nimmt ab.
    Man fühlt sich wie im Kriegsgebiet.
    Dazu passen auch die verfallenen Häuser, die den Weg säumen.
    Dann öffnet sich eine Lichtung und gibt den Blick frei auf den Stadioneingang.
    Davor wurden Absperrgitter aufgebaut, durch die man sich als Besucher quälen muss.
    Weil wir allerdings von der Polizei gebracht werden, muss keiner warten und es geht direkt ins Stadion.


    Das Stadion ist an jeder Seitenlinie spielfeldnah und ohne Laufbahn mit Tribünen bebaut.
    Bebauung oder Blöcke in den Ecken gibt es praktisch nicht.
    Das sind nur Verlängerungen der Geraden, die sich in den Ecken treffen.
    Jede Seite ist anders bebaut.
    Hinter der einen langen Geraden kommen ein paar Sitzplätze und dahinter eine große, überdachte Tribüne, so ähnlich wie früher im Bruno-Plache-Stadion.
    Auf der Gegenseite steht ein Haus, in dem sich Umkleidekabinen für die Spieler, VIP-Räume, Polizeiräume, Toiletten, eine Bar, Pressebereich, usw. befinden.
    Von da aus führt ein kurzer Weg für die Spieler direkt vom Haus aufs Spielfeld.
    Links und rechts dieses kleinen Weges gibt es wieder ein paar Steh- und Sitzplätze.


    Hinter dem einen Tor ist der kleine Gästeblock.
    Er bietet auch nur Stehplätze.
    Hinter dem anderen Tor gibt es wieder Stehplätze und dahinter eine große, unüberdachte Stehplatztribüne.
    Das ist die Heimat der BSG-Ultras.
    Auf dieser Tribüne wird an die Meisterschafts- und Pokalerfolge der Chemiker erinnert und Choreos werden zelebriert.


    Früher hieß das Stadion Georg-Schwarz-Stadion.
    Georg Schwarz war ein Leutzscher Kommunist, der im sächsischen Landtag saß und später verhaftet, ins KZ gesteckt und hingerichtet wurde.
    Nach ihm ist auch die Straße in der Nähe benannt, in der er selbst wohnte.
    Ein Gedenkstein erinnert im Stadion an ihn.


    Schließlich betreten die Mannschaften das Spielfeld und sie werden lautstark von ihren jeweiligen Anhängern angefeuert, von 5.000 Chemie-Fans und über 600 Lok-Fans im Stadion und weiteren über Tausend im Bruno-Plache-Stadion.
    Ich frage mich, ob irgendein Chemie-Fan, der keine Karte mehr bekommen hat, beim Public Viewing in Probstheida mitmacht.
    Lustig wäre es ja.
    Es ist ersichtlich, dass wohl mehr als die zugelassenen 4.999 Zuschauer im Stadion sind.
    Da wird Chemie unter der Hand weitere Tickets verkauft haben.
    Wer will es ihnen verdenken?


    Zwischendurch Bilder vom Spiel an die Außenwelt zu schicken oder Nachricht von außen zu erhalten, ist übrigens nicht möglich, weil übers Funknetz keine Verbindung zum Internet entstehen will.
    Ein Schelm, der Störsender dahinter vermutet.


    Das Spiel verwandelt sich schnell in ein übles Gestocher.
    Jegliche kleine Blüte eines konstruktiven Spielaufbaus seitens der Gäste wird durch die Spielweise der Gastgeber, die mit allen Mitteln das Spiel zerstören wollten, geplättet.
    Ein paar Mal kommen beide Seiten zu Torchancen, aber niemand trifft ins Schwarze, sodass es letztlich die Verlängerung richten muss.
    In dieser ist es dann Hiromu Watahiki, der mit einem der schwächsten Schüsse des ganzen Spiels in der 117. Minute das einzige Tor des Tages erzielt, weil der Torwart einen gedanklichen Blackout erleidet.
    Vielleicht war er in Gedanken schon beim Elfmeterschießen und hielt dort alle Elfmeter.
    Überschwängliche Freude wenige Meter hinter dem Tor, denn da sind die mitgereisten Gästefans und freuen sich über den Derbysieg.
    Überall im Stadion hört man die „LOK“-Rufe.
    Erstaunlich viele der anwesenden Zuschauer in allen Teilen des Stadions offenbaren nun ihre wahren Sympathien.


    Mein Liebling bei diesem Tor ist übrigens nicht Watahiki.
    Der ist schon legendär genug.
    Ich finde das Erscheinungsbild des rundlichen Herrn mit der Sonnenbrille und Armbinde hinterm Tor sehr interessant.
    Ich weiß nicht, ob er Hooltra ist, der einfach über den Zaun gesprungen kam oder vielleicht irgendeiner Security zuzurechnen ist, aber auf Videoaufnahmen sieht man, wie er sich auch über das Tor freut.


    Die wenigen Minuten, die noch verbleiben, werden souverän heruntergespielt und die Dienstreise kann als Erfolg verbucht werden.
    Eindrucksvoll war, dass die Chemie-Fans nach dem verlorenen Pokalderby nicht wie begossene Pudel davonliefen, sondern alle da blieben, um ihrer Mannschaft für die gezeigte Leistung Respekt zu zollen.


    Viel Zeit, um die Freude in der Heimat des Feindes zu zelebrieren, bleibt nicht.
    Alle werden beordert, möglichst schnell zu gehen, da die Busse für die Rückfahrt schon warten.
    Ja, genau, nicht einmal nach dem Spiel traut man dem Gästeanhang zu, sich frei in der Stadt bewegen zu können.
    Also alle zurück durch die Brachlandschaft, unter der Brücke hindurch und ab in die Busse.
    Von den Sinneseindrücken der letzten Stunden mitgenommen ist es in den Bussen im Gegensatz zur Hinfahrt sehr leise.
    Kaum jemand sagt etwas, alle genießen still den Sieg.
    Als es wieder am Brausepalast vorbei geht, sind nur vereinzelte „Scheiß Red Bull!“-Rufe zu hören.


    Bei der Rückkehr ins Stadion spielt sich das gleiche ab wie bei der Abfahrt.
    Die heimkehrenden Fans werden von denen, die das Spiel in Probstheida auf der Leinwand verfolgt haben, frenetisch begrüßt und bejubelt.
    Aber das ist erst der Auftakt für die echten Feierlichkeiten.
    Als es bereits wieder dunkel wurde, kam der Mannschaftsbus um die Ecke gebogen und laute Fangesänge, Pyrotechnik in rauen Mengen und vom Glück beseelten Menschen hießen die siegreichen Helden auf heimischem Boden willkommen.
    Siegtorschütze Watahiki wurde gefeiert wie ein Volksheld und in der Stadionkneipe wurde ihm ein Freibier nach dem nächsten ausgeschenkt.
    Er hatte sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern verdient.


    Zufrieden ging es dann nach Hause.
    An diesem Abend waren außergewöhnlich viele Lok-Fans offen erkennbar in der Stadt unterwegs.
    Chemiker sah man dagegen nicht einen einzigen.


    Ein perfekter Derbytag geht so also zu Ende und wieder einmal hieß es:


    :ossi: CHEMIE-SCHWEINE RAUS!

  • Kapitel 6 - Chemnitz


    in dem ich durch den Wilden Westen fahre, eine DIN-Lösung begutachte und "die Leiden des jungen Joppe" eine Fortsetzung finden


    Was kommt vor einem Finale?
    Wenn man zu viel Abflussreiniger gesoffen hat, wahrscheinlich Helene Fischer oder Will Smith.
    Anonsten kommt ein Halbfinale.
    So auch an einem sommerlich warmen und sonnigen Frühlingstag im Jahre des Herrn 2019, als es um die Entscheidung ging, wer ins Finale des Sachsenpokales einziehen und dieses somit ausrichten dürfte.
    Vorher war schon klar, dass der FSV Zwickau durch einen Sieg gegen Budissa Bautzen das Finale erreicht hatte und als höherklassigerer Verein Gast im Finale des anderen Finalteilnehmers sein würde.


    Nach Pokalsiegen gegen so klangvolle Namen wie Hainsberg, Auerbach und erneut Chemie Leipzig stand nun also das Saisonhighlight an - ein Halbfinale in Chemnitz.
    Noch Monate vorher hätte niemand einen Euro darauf gesetzt, dass womöglich Lok das Spiel gewinnen könnte, doch die verbesserten Leistungen unter Trainer Joppe und ein Aufsehen erregender 4:2-Heimsieg gegen eben jene Chemnitzer nur wenige Wochen zuvor ließen das Hoffnungsflämmchen doch ein wenig lodern.


    Das einzige Problem:
    Wenn man nach Chemnitz will, muss man nach Chemnitz.
    Einerseits befindet es sich in dieser zusammengedrängten Ecke, in der es vor ekelig zu bespielenden und unsympathischen Vereinen nur so wimmelt.
    Chemnitz, Zwickau, Aue, Plauen, Auerbach, alle beieinander.
    Andererseits gestaltet sich der Weg nach Chemnitz immer sehr mühselig.
    Während die meisten größeren Städte irgendwie durch Autobahnen verbunden sind, ist das für die Verbindung Leipzig-Chemnitz noch ein frommer Wunsch.
    Stattdessen muss man sich über eine stark frequentierte Landstraße mit vielen kleinen Orten und hoher Blitzerdichte dazwischen ärgern, die in vielen Bereichen auch noch eine Dauerbaustelle ist.
    Auch mit dem Zug geht es nicht sonderlich schnell.
    Die Strecke ist einfach furchtbar.


    Und hat man sie hinter sich, erwartet einen gleich der nächste Schrecken: Chemnitz.
    Die Stadt ist sehr merkwürdig gebaut.
    Auf ein paar zusammenstehende Häuser kommen oftmals kilometerlange Straßen an Gewerbegebieten und Grünflächen vorbei, bevor die nächste Ansammlung an Häusern kommt und immer so weiter.
    Die Stadt nimmt deutlich mehr Fläche ein als nötig und wirkt eher wie eine amerikanische Ansiedlung.
    Zu Fuß irgendetwas erreichen zu wollen, muss die Hölle sein.


    Folgerichtig steht dann auch das Stadion mitten im Nirgendwo.
    Es ist eines dieser schnell hingeklotzten 08/15-Betonstadien, die überall aus dem Boden sprießen.
    Spätestens seit letztem Jahr ist es auch bundesweit bekannt, da der Ministerpräsident hier nach den Chemnitzer Vorfällen eine Diskussionsrunde abhielt.
    Als Ordner werden an diesem Tag Geistigbehinderte eingesetzt.
    Sämtliche sich ergebende Witze darf der Leser sich selbst denken.
    Neben einigen anderen gut sichtbar angebrachten Bannern im Stadion für Rechtsstaat und Demokratie ordne ich das wider besseren Wissens als einen Versuch des Vereins ein, das ramponierte Image ein wenig zu straffen.


    Noch einmal zum Thema beliebiges Stadion.
    Ich hatte es schon mal ein paar Jahre vorher besucht, als Lok gegen Chemnitz II spielte.
    Da war es eine halbfertige Baustelle und man musste durch die Gruben, Hügel und Baugeräte hindurchstolpern, wenn man auf den Rohbau wollte, der sich Gästetrubüne nannte.
    Heute ist es fertig.
    Irgendwie.
    An der Vorderseits erstreckt sich eine Glasfront, hinter der sich die Geschäftsstelle des Vereins befindet.
    Im Inneren gibt es eine Haupttribüne mit gepolsterten VIP-Plätzen, daneben einen Pressebereich und hinter den Toren Stehbereiche für Heimfans und Gäste.
    Dazu dann noch eine Videoleinwand, viele Sitzplätze und ein Dach mit Flutlicht.
    Egal, wie angestrengt ich etwas zu finden versuche, nirgendwo hat dieses Stadion ein Alleinstellungsmerkmal, das einem ins Auge fiele.
    Das Berliner Olympiastadion hat sein Marathontor und das in München sein Designerdach.
    Auch das einigermaßen beliebig wirkenden Stadion in Magdeburg hat durch das Hüpfverbot wenigstens eine Geschichte.
    Doch dieses Stadion ist so standardmäßig, dass Menschen darin wie unerwünschte Fremdkörper wirken.
    Die Chemnitzer Zuschauer sind zwar da, aber in diesem Stadion wirken sie genau so zu Gast wie ich und nicht wie ein angestammtes Heimpublikum.
    Das Stadion ist ein postmodernes Kunstprojekt, steril, langweilig und abweisend.
    Es wäre besser, das Stadion leer stehen zu lassen und als Warnung an die Nachwelt ausgewählten Besuchern zugänglich zu machen.


    Irgendwann ist dann auch schon das Spiel.
    Ziemlich schnell geht Chemnitz mit zwei Toren in Führung und unter realistischen Voraussetzungen ist es das dann auch gewesen.
    Noch dazu wird Trainer Joppe vom Schiedsrichter auf die Tribüne geschickt, weil Joppe sich eine arrogante Bemerkung des Schiedsrichters nicht gefallen lassen wollte.
    Auf der Tribüne hockend sieht er für den Rest des Spiels so aus, als würde er alle Pein der Welt auf sich vereinen.
    Die einzigen, die noch dran glauben, sind die mitgereisten Fans, die den Auswärtsblock gut ausfüllen und für die beste Auswärtsstimmung von Lok sorgen, die ich wohl je miterlebt habe.
    Da wird wirklich fast ohne Unterbrechung von allen im Block Vollgas gegeben.
    Und das zahlt sich aus.
    Zuerst kann Lok vor der Pause verkürzen und in der zweiten Halbzeit gelingt sogar noch der Ausgleich.
    Zum ersten Mal ist damit der Großteil der Zuschauer zum Schweigen gebracht, denn bei den Chemnitzern beginnt nun die Einsicht durchzusickern, dass man so ein Halbfinale auch verlieren könnte.
    Bis zum Abpfiff passiert nichts mehr.
    Verlängerung.
    In der gelingt es Lok sogar, in Führung zu gehen, was bei den Mitgereisten für Ekstase sorgt, aber postwendend schießt Chemnitz den Ausgleich.
    Fünf Minuten vor dem Ende gibt es noch eine gelb-rote Karte für Lok, aber das Ergebnis wird bis zum Abpfiff gehalten.
    Dann das Elfmeterschießen.
    Ob diejenigen, die mit dem Zug angereist sind, auch wieder zurückkommen, ist zu dem Zeitpunkt alles andere als klar.
    Im Elfmeterschießen ergibt sich dann die Besonderheit, dass jeder Schütze einmal antritt und dann die ersten noch ein weiteres Mal antreten müssen, weil noch keine Entscheidung gefallen war. Paul Schinke konnte seinen dann zweiten Elfmeter nicht verwandeln, weil Chemnitz' Torwart den Schuss hielt.


    Damit waren die Pokalträume ausgeträumt, aber dennoch konnten alle erhobenen Hauptes wieder nach Hause fahren.

  • Kapitel 7: Aue


    In dem die Polizei ein Verbrechen gegen die Ehrlichkeit aufdeckt, die Gastgeber unfaires Verhalten zeigen und Rentner jetzt in die Röhre schauen


    Wofür ist Aue bekannt?

    Für Fußball und verstrahlten Bergbau Marke Wismut.

    Beide gehören untrennbar zusammen.

    Sonst gäbe es auch keinen Grund, dieses bedeutungslose Nest zwischen Zwickau und Tschechien zu kennen.

    Ursprünglich sollte das Spiel am Wochenende stattfinden, doch dann wurde bekannt gegeben, dass die Polizei das Spiel wegen Personalmangels nicht absichern könne.

    Also wurde es auf den nächsten Mittwoch 18:30 verlegt.

    Unter den Fans machte sich deshalb sogleich Unmut breit, denn den meisten würde die Arbeit einen Strich durch diese Auswärtsfahrt machen.

    Und das im spannenden Aufstiegskampf wenige Wochen vor Saisonende.

    Am Sonntag hatte das vorher punktgleiche Markranstädt nur Unentschieden gespielt.

    Mit einem Sieg bei Aues Zweiter wäre also der Sprung auf den Relegationsplatz möglich.

    Ein paar Leipziger machen sich dann doch auf den Weg ins Erzgebirgsstadion.

    Wohlgemerkt ins alte mit Laufbahn, vor dem Umbau.


    Die Anreise war schwierig, denn eine lückenlose Autobahn zwischen Leipzig und wenigstens Chemnitz ist Fehlanzeige (bis heute!).

    Und die bestehende Strecke ist noch dazu eine Dauerbaustelle (bis heute!).

    Man muss also viel Geduld mit einpacken.

    Nach dem Passieren solcher Provinznester wie Borna (immerhin mit eigenem Lokalfernsehen ausgestattet) und Espenhain und dem Gezuckel über die hinterwäldlerischen Landstraßen ab Zwickau im Vorerzgebirge begrüßte mich irgendwann der an einer Brücke angebrachte lila-weiße Schriftzug „Willkommen im Schacht“.

    So oder so ähnlich muss das Tor zur Hölle aussehen.

    Aber nicht das Tor zu einer vornehmen Hölle wie dem Hades der griechischen Mythologie oder dem, was sich Dante so fürs Christentum ausgedacht hat, sondern eher der Art Hölle, in die man kommt, wenn man ein Leben lang auf Hartz IV (liebevoll auch H-IV abgekürzt) angewiesen war und trotzdem eine Attitüde wie die Geissens vorwies.

    Es ist Dresden, dem man vorwirft, im Tal der Ahnungslosen gelebt zu haben, aber es ist Aue, wo es bis heute eine Videothek gibt!

    Es ist gut möglich, dass Aue die einwohnerärmste Stadt im Profifußball wäre, wenn da nicht Dietmar Hopp sein Dorf in die Bundesliga gehievt hätte.

    Selbst mit Eingemeindung von über einem Dutzend Ortsteilen werden gerade mal so 20.000 Einwohner erreicht.

    Deshalb heißt die Stadt offiziell auch nicht einfach nur Aue, sondern Aue-Bad Schlema.

    Warum die Stadt dann nicht die Möglichkeit genutzt hat, sich Bad Aue oder Böses Aua zu nenne, bleibt ihr Geheimnis.


    Auch politisch ist die Stadt interessant, denn im Gemeinderat teilen sich ganze 9 Parteien die Sitze.

    Neben den allgemein bekannten Parteien, von denen die Grünen nicht einmal dabei sind, weil sie zu wenige Stimmen erreicht haben (klarer Sympathiepunkt für Aue!), gibt es die beiden Freien Wählervereinigungen „Aue“ und „Erzgebirge“, den Verein „Wir sind Aue-Bad Schlema e.V.“ und die „Auer Liste der Unabhängigen“.

    Aue dürfte auch einer der wenigen Orte sein, in denen sich im Gemeinderat sowohl AfD als auch NPD halten konnten (das gibt keine Sympathiepunkte).

    Von den 25 Sitzen hat niemand mehr als 6 inne.

    Das dürfte interessante Sitzungen geben, bei denen ich gerne mal zuschauen würde. :D


    Aber zurück zum runden Leder.

    Das Gelände von Erzgebirge Aue liegt hinter einem McDonald’s am Stadtrand von Aue, der kaum weiter als einen Kilometer vom Zentrum entfernt ist.

    Es liegt in einem Tal zwischen der Chemnitzer Straße, über die man den Ort ganz schnell wieder verlassen kann und zwei Bergen.

    Auf dem südöstlichen der beiden Berge stehen Wohnhäuser und Kleingartenanlagen, von denen aus man einen prima Blick ins alte Stadion hatte.

    Das dürften sich über die Jahre viele Rentner zunutze gemacht haben, um knauserig eine Eintrittskarte einzusparen.

    Heute könnte das durch den engeren Neubau nicht mehr so einfach möglich sein.


    Durch das Gelände fließt der Lößnitzbach.

    Ich kann mich auf Anhieb nicht daran erinnern, schon mal bei einem anderen Verein gewesen zu sein, bei dem einfach so ein Gewässer durchs Gelände fließt - Nordhausens Moore ausgenommen.

    Funktionsräume, VIP-Lounge, Fanshop und Trainingsgelände sind alle innerhalb weniger Gehsekunden vom Stadion aus zu erreichen.

    Wenn man mit der Ländlichkeit klarkommt, könnte das ein ruhiger, entspannter Arbeitsplatz sein.

    Vielleicht gelingt es Aue auch so, immer wieder konkurrenzfähige Spieler anzulocken.


    Wie so oft trieb die Nachwendezeit auch in Aue makabere Blüten.

    So war Aue 9 Jahre lang Teil eines Vereins aus Karl-Marx-Stadt, spielte aber auch in der Zeit in Aue und bestritt dabei mehrere Derbys gegen den anderen Verein aus Karl-Marx-Stadt.

    Außerdem gelang es Aue in der Zeit, dreimal Meister zu werden und einmal den Pokal zu gewinnen.

    Im neuen Jahrtausend spielte Aue vorwiegend in der 2. Bundesliga mit und hat sich bei einem Zuschauerschnitt zwischen 8.000 und 10.000 Zuschauern eingependelt.


    Irgendwann kamen die Mannschaften an und bei einem Blick auf die Aufstellungen wurde eines schnell klar:

    Aus irgendeinem Grund bot Aue einige Spieler aus dem Zweitligakader für dieses Spiel auf.

    Vielleicht nahmen die das als Trainingseinheit unter der Woche mit, wirklich faire Bedingungen waren damit aber wie schon zwei Monate vorher in Chemnitz nicht mehr gegeben und bei dem eigentlich vorgesehenen Termin am Wochenende wäre es dazu wohl auch nie gekommen.

    Über diesen Umstand regte sich der seit ein paar Wochen im Verein präsente Mario Basler zurecht vor dem Spiel auf, konnte an der Aufstellung der Auer aber natürlich nichts mehr ändern.

    So kam es auch wie es kommen musste und Lok verlor das Spiel mit 2:0.

    Einen besonderen Beigeschmack hat das ganze Geschehen, weil Aue, ebenso wie Dresden und Chemnitz, am Ende der Saison die Zweitmannschaften vom Spielbetrieb abmeldete.


    Durch die Umgebung und ihre Bauweise erinnerte mich die alte Tribüne in Aue mehr an ein Wintersportstadion als an eines für Fußball.

    Das passt, da in Aue der Winter sicher noch einmal vorne und hinten je einen Monat länger dauert als in den meisten anderen Gegenden Deutschlands.

    Wann immer im Winter von deutschen Kälterekorden zu hören ist, ist das irgendwo in der Nähe.


    Die Halbzeit nutzte ich dazu, die Polizei zu fragen, was es am Wochenende denn so Wichtiges gab, dass man dieses Spiel mit gerade mal 750 Zuschauern nicht absichern konnte. Der Polizist war verwundert und meinte, dass die Polizei mit der Verlegung überhaupt nichts zu tun hatte und diese auf Wunsch von Erzgebirge Aue geschehen war.

    Die Anzeichen für vorsätzlichen Beschiss verdichteten sich also.

    So blieb also nichts anderes übrig, als die beschwerliche Strecke zurück in die Heimat zu bestreiten und zu hoffen, dass die Konkurrenz nicht alle restlichen Spiele gewinnen würde.


    Eine lustige Anekdote, die nur am Rand mit Aue zu tun hat, erzählte mir später einmal der langjährige Mannschaftsbusfahrer, der natürlich wie überall anders auch "Bussi" hieß.

    Genau konnte ich nie herausfinden, wo er herkam, aber dem Dialekt nach muss es das tiefste Bayern gewesen sein.

    Als der FC Bayern mal ein Pokalspiel in Aue hatte, hatte am selben Tag eine Jugendmannschaft von Lok dort ein Spiel.

    Bussi fuhr die Mannschaft hin und zu seinem persönlichen Glück war der Mannschaftsbus der Bayern auch schon da.

    Die Zeit, in der die Jugendmannschaften kickten, nutzte er, um mit dem Fahrer des Bayern-Busses in Kontakt zu kommen und sich dort mal alle Raffinessen zeigen zu lassen, mit denen der Bus des Rekordmeisters ausgestattet war.

    Laut eigener Aussage war das eines der Highlights seiner Busfahrerkarriere.

    Nun ja.


    Besuchtes Spiel: 22.04.2015, Oberliga NOFV-Süd, Erzgebirge Aue II - Lok Leipzig, 2:0.


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